Fritz-Gerald Schröder hat die Professur für Gemüseanbau an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden inne und ist dort als Beauftragter der Gewächshäuser tätig. Seit über zehn jahren beschäftigt er sich mit Pflanzenbelichtung und ökologisch nutzbaren Pflanzensystemen. Außerdem leitet er das Projekt “BrickBorn Farming – Nahrungsmittelproduktion in Gebäuden städtischer Gebiete”, das erforscht, wie die unterschiedlichen Teilbereiche von Vertical Farming wie etwa Gebäudemanagement, Aquakulturen und Monitoring ideal miteinander verknüpft werden können. Um die Ergebnisse testen zu können, sucht das Projekt aktuell nach geeigneten Immobilien für eine Vertical Farm.
Landwirtschaft der Zukunft – Vertical Farming
Lebensmittel so regional wie möglich, direkt in den Städten
- Was ist Vertical Farming?
Vertical Farming ist Pflanzenanbau in urbanen Gebieten. Weil man in Städten aber Platzmangel und keine landwirtschaftliche Ackerfläche hat, muss man die dritte Dimension nutzen, die Vertikale. Das fängt an beim Dachgarten und endet bei Pflanzensystemen, die in mehreren Etagen übereinander angebaut werden. Das ist die moderne, zukünftige Anzucht von hochwertigen Pflanzen in städtischen Gebieten - dort, wo es die Menschen hinzieht. Zwei Drittel der Menschen leben in Städten und die Pflanzen werden nachziehen.
Welche Vorteile kann es haben?
Wir alle möchten lokales Gemüse essen, am besten vom Gärtner um die Ecke, aus dem Nachbarhaus, oder aus der dritten Etage. Näher geht es nicht. In einigen Mega-Citys haben wir aber selbst innerstädtisch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln Fahrtzeiten von zwei oder drei Stunden, bevor ich bei einem Gärtner bin. Durch Vertical Farming können diese Wege kürzer werden. Außerdem sehnen sich Menschen sobald sie in der Stadt sind nach Grün, brauchen Pflanzen und die Koexistenz, die man vorher auf dem Land hatte. Man möchte aber nicht zurück aufs Land, sondern die Pflanze zu sich in die Stadt holen. Man hat dann zusätzlich nicht nur die Pflanzen nah bei den Menschen, sondern auch die Arbeitskräfte nah bei den Pflanzen. Das ist nämlich auf dem Land ein Problem.
Und welche Nachteile?
Die Energieeffizient. Wenn ich in einer Stadt anbaue, in der schon alles in der Vertikalen zugebaut ist, habe ich natürlich viel Schatten und wenig Sonnenlicht, in geschlossenen Räumen natürlich gar keines. Deswegen brauche ich Pflanzenassimilationslicht oder platt gesagt Kunstlicht. Das Kunstlicht, das wir für uns Menschen erfunden haben, ist aber energetisch recht teuer. Und von der Globalstrahlung, die auf die Erde fällt, nutzt die Pflanze nur etwa ein Prozent. Wenn wir also genau wissen, welches Prozent des Lichts das ist, können wir die Kosten erheblich senken, indem wir der Pflanze nur das geben, was sie zur Photosynthese braucht. Und dann können wir auch die Qualität beeinflussen, etwa einen höheren Vitamin- oder Carotingehalt herstellen. Die LEDs sind ein erster Schritt dahin. Zukünftig werden wir über völlig neue Pflanzenbelichtungssysteme nachdenken.
Sind fruchtbare Ackerflächen tatsächlich so rar und falls ja, warum?
Momentan reichen die Ackerflächen noch aus, um die sieben Milliarden Menschen der Welt zu ernähren. Sogar, wenn wir dann demnächst acht Milliarden sind. Aber wir verlieren etwa 50 Prozent dessen, was auf dem Acker wächst. Das kommt gar nicht beim Menschen an. Zusätzlich verlieren wir in Deutschland pro Tag 100 Hektar Ackerfläche durch Bebauung, Industrie, Straßen. In den letzten 20 bis 25 Jahren insgesamt etwa ein Achtzehntel unserer landwirtschaftlichen Nutzfläche. Wir verlieren einfach pro Tag 100 Fußballfelder. Wenn das echte Fußballfelder wären, würden wir Deutsche aufschreien. Beim Ackerbau aber merken wir es einfach nicht, weil es so kleinteilig und zerstreut passiert.
Könnte man die 50 Prozent Verlust vom Acker auf den Teller nicht verhindern und dann mit weniger Acker auskommen?
Man könnte schlussfolgern, dass man die Verluste reduzieren könnte und dann die doppelte Menschheit ernähren kann oder weniger Äcker braucht. Aber es geht dabei um Verluste durch Krankheiten, Schädlinge, Dürre und Hagelschläge etwa. Dinge die man gar nicht oder nur mit enormer Anstrengung verhindern kann. Wir werden es also nich schaffen, die 100 Prozent auf den Teller zu bringen.
Wenn Vertical Farming so positiv ist, warum sehen wir dann trotzdem keine Hochhäuser voller Soja-Sprossen in unseren Städten?
Wenn wir dort hinschauen, wo Lebensmittel noch teurer sind, wo Ackerland noch knapper ist als hier, etwa in den asiatischen Industriestaaten Südkorea und Japan, dann sehen wir eine Reihe von Regierungsprogramme, die Vertical Farm fördern. In Japan gibt es bald 200 Farmen. Da kostet der Apfel im Winter aber auch 5 Euro und die Melone 60! Bei diesen Preisen lohnt es sich über andere Anbauarten nachzudenken. Bei uns lohnt sich das momentan noch nicht. Unsere Märkte sind völlig offen. Deutschland ist weltweit der größte Agrarimporteur - mit nur 82 Millionen Deutschen. Für eine Vertical Farm in Berlin wäre es einfach zu schwierig, sich preislich gegen die anderen durchzusetzen. Obwohl es momentan ein paar probieren.
Viele Großprojekte, die man im Internet findet, beinhalten komplette und komplexe Neubauten. Ist das der beste Weg?
Mein Ansatz ist ein anderer: Wir haben so viele alte Immobilien – auch innerstädtisch – die leerstehen und keine Nutzung haben. Diese bestehende Infrastruktur sollte man nutzen. Es ist ja alles da: Wasser, Strom, Abwasser. Da kann sich Vertical Farming perfekt einfügen. Und in vielen Ballungsgebieten hat man ja das Problem, dass man nicht weiß wohin mit den riesigen Häusern, in denen Konflikte entstehen und in denen niemand leben will. Bei Berechnungen zu einem neuen Gebäude für Reisanbau in Asien haben wir herausgefunden, dass zwar alles wunderbar funktionieren würde, aber dass die Anfangsinvestition so immens wären, dass es sich einfach nicht lohnt.
Worauf muss man beim Vertical Farming besonders achten?
Wichtig ist das Marketing. Ich muss das Produkt marktnah absetzen können und deswegen muss eine gewisse Akzeptanz der Kunden da sein. Unsere Strategie wäre, wenn das erste Pilotprojekt kommt, den Leuten gleich alles zu zeigen. Sie müssen die verschiedenen Anbausysteme sehen, sehen, die Vorteile, wie gesund die Pflanzen sind und ganz zum Schluss muss oben auf dem Dach Tim Mälzer ein Restaurant führen mit schönem Blick über die Stadt, praktisch als Verkostung. Es braucht so ein Marketing-Konzept. Die Leute würden reinströmen so wie bei der Expo 2000 in Hannover der Niederländische Pavillon, der als Haus des 21. Jahrhunderts Leben, Wohnen, Arbeiten und Landwirtschaft vereint. Ein Haus, das in sich lebt. Einschließlich Dachgarten und Restaurant. Da standen die Menschen stundenlang an, nur um das zu sehen! So muss es laufen.
Wie könnte sich Vertical Farming in Deutschland durchsetzen? Wie weltweit?
Deutschland ist ein Technologieland. In Berlin gibt es schon erste Bemühungen, aber ich denke, Vertical Farming wird dort auch vorerst bleiben. Außerdem hilft es, dass die Akzeptanz bei jungen Menschen höher ist. Sie wissen, dass sie saubere Lebensmittel bekommen und nehmen die Technologie sehr gerne an, weil sie schon perfekt mit ihrem Smartphone und digitalen Medien vernetzt sind. Bei den älteren Menschen ist die stärkste Produktgruppe noch immer Bio. Spätestens seit der EHEC-Krise wissen wir aber, dass die Darmbakterien und andere Stoffe in Tierausscheidungen für Menschen gefährlich werden können. Die nächste Phase der Produktgruppe ist also nun auf dem Weg.
Generell ist es so: Wenn ich Neues produziere brauche ich einen neuen Preis. Wenn ich mit Vertical Farming das gleiche anbiete, wie das, was unter freiem Himmel wächst, habe ich keine Chance. Es muss zu einem neuen Produkt kommen. Die Leute müssen ihren Vorteil haben. Vielleicht kann man es ja über den Anti-Aging-Effekt von Gemüse und Obst verkaufen. Ich bin mir sicher, dass es sich so durchsetzen könnte.Ist Vertical Farming in manchen Regionen sinnvoller als anderswo und warum?
Klar, besonders dort, wo Lebensmittelknappheit wegen Umwelteinflüssen droht. Das kann politische Strukturen bewahren. Wenn Lebensmittel knapp werden, führt das zu gesellschaftlichen Spannungen, wie etwa im 70er Jahre Science-Fiction Film „Soilent Green“. Wenn sie dann nicht mehr ausreichen, führt das zu politischer Instabilität, wie bei der Französischen Revolution. Die wurde durch zwei Missernten hervorgerufen. Dann haben die Bauern ihre Gabeln genommen und den König zum Teufel gejagt. Wenn die Lebensmittel knapp werden, herrscht Anarchie. Selbst wenn man reich ist und genug Essen hat, hat man ein Problem, weil man seine Vorräte und sich selbst schwer bewachen muss. Als wir 2008 die Finanzkrise hatten, gab eine Krisensitzung des Bundestages zur Lebensmittelsituation für die deutsche Bevölkerung, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Lebensmittelpreise um 41 Prozent gestiegen. Das könnte ein Parteiensystem wie eine Demokratie schon mal ins Schwanken bringen. Nur haben wir die Preiserhöhungen bei vielen Lebensmitteln wie Zucker gar nicht wahrgenommen, weil wir sie nicht ständig kaufen und so reich sind. Aber andere Länder merken das schon. Die Welt würde mit all den Nahrungsmittelreserven, die sie hat, 40 Tage ohne neue Produktion durchhalten. Danach hätten wir nichts mehr zu essen und würden uns selber essen. Würden unsere Vorräte für 38 Tagen reichen, hätten wir weltweit Krisen. Hätten wir für 42 Tage Vorräte, gäbe es einen weltweiten Preisverfall durch Überproduktion. Das was wir machen ist also völlig auf Kante genäht! Und wenn wir noch mehr Menschen werden und noch weniger Acker da ist, dann wird diese Kante immer immer dünner. Wir sehen das nicht und wissen es nicht und deswegen wird es dazu kommen. Vertical Farming kann da Stabilität schaffen.
Welche besonderen Vorteile aber auch Hindernisse gibt es für Vertical Farming in Deutschland?
Schon im 1826 wurden die Thünenschen Ringe entwickelt. Ein System um festzustellen bis zu welcher Entfernung zum Verbraucher sich der Anbau noch lohnt. Aber diese Thünenschen Ringe haben wir ausgehebelt etwa durch die Subventionierung von Flugverkehr und die Steuerfreiheit von Kerosin. Und Schiffstransporte sind ja noch umweltbelastender und noch billiger. Die Transporte müssen wir einfach kritischer sehen. Denn plötzlich ist der Transport der Kiwis aus Neuseeland hierher genauso teuer wie der von Obst aus Brandenburg. Wir haben ökonomische Grundlagen ausgehebelt. Wenn die wieder greifen würden, weil ein Rohstoff knapp wird, dann würde man ganz schnell Speckgürtel um die Städte haben, die sie direkt beliefern.
Der Handel hat aber inzwischen erkannt, dass es gut laufen kann mit dem Vertical Farming. Edeka Berlin kauft jetzt bei einer der drei Berliner Farmen. Der Handel wird das Konzept übernehmen. Denn zukünftig können wir nicht mehr einer Neuseeländischen Bio-Kiwi einen grünen Footbrint andichten. Diese Kiwi ist um die halbe Welt geflogen und besteht zu 95 Prozent aus Wasser! Wem will man das plausibel erklären, wenn wir bei diesen Transporten bleiben?Manche Landwirten sehen Vertical Farming kritisch. Es sei ineffizient, weniger kontrollierbar. Was entgegen Sie ihnen?
Es ist natürlich einfacher, das Licht der Sonne und den Boden, der uns gegeben wurde, kostenlos zu nutzen. Wenn ich das aber nicht habe oder es nicht verfügbar ist oder eine riesigen Aschewolke von einem Vulkanausbruch über uns hängt, hilft uns das nicht. Genau das hat ja auch zum Ende der Maya geführt: ein Vulkanausbruch. Wenn da ein oder zwei Ernten ausfallen, kann das das Ende eines Volkes sein. In Deutschland haben wir nur jedes vierte Jahr ein optimales Jahr was den Anbau betrifft. In den anderen drei Jahren ist es zu trocken, zu nass, zu windig. In Australien ist es jedes siebte Jahr, weil sie dort so viele Dürren haben. Nicht jedes Jahr ist optimal. Das wissen wir in der Praxis.
Warum sind Pflanzen so wichtig in der nächsten Umgebung von Menschen?
Das sind psychologische Effekte. In jeder Strafvollzugsanstalt gibt es etwa grüne Bereiche, um die Leute wieder zu erden, also Gärten und freie Flächen. Im Krankenhaus ist es völlig unstrittig, in jeder Psychiatrie erfolgt die Heilung des Menschen auch über Pflanzen. Sie helfen, weil die Menschen bei ihnen eine Entwicklung sehen, ihren Wachstum. Das braucht der Mensch, selbst die Astronauten, die im Weltraum rumschweben machen Versuche mit Einzellern und Mehrzellern, einfach nur damit sie eine Entwicklung sehen. Wir wissen, dass sie lebensnotwendig sind und wir haben immer in einer Ur-Symbiose gelebt, die wir einfach verinnerlicht haben. Pflanzen funktionieren bei Kindern, Demenzkranken, Schwerverbrechern, psychisch Kranken.
Wo sehen Sie die Zukunft der Nahrungsmittelproduktion?
In näherer Zukunft beim Clean Food. Sauber und frei von jeglichen anderen Zusatzstoffen. Diese Bewegung kommt aus den USA. Das Obst und Gemüse wird im geschützten Raum angebaut, bekommt keine Dünger, keine Pestizide. Gerade steigt Amazon auch in diesen Markt ein. Vermutlich wird der Konzern ihn dann übernehmen. Aber Clean Food ist auch nicht neu: bei Mineralwasser haben wir es schon längst. Und bei Babynahrung! Frei von Zusatzstoffen, frei von allem. Jetzt wird dieser Trend auch in Deutschland Halt machen und eine neue Käuferschicht begeistern. Die nächste Generation wird das ihren Eltern aber trotzdem nicht nachmachen, die machen eigentlich immer etwas komplett anderes als ihre Vorgänger.
Wird die Nahrungsmittelproduktion zentral wie heute oder dezentral mit unzähligen kleinen Einheiten wie etwa beim Vertical Farming ablaufen?
Es wird weiterhin in hochspezialisierten effektiven Großbetrieben produziert werden, aber vor allem vor Ort, dort wo die Nahrungsmittel benötigt werden. Die Nahrung einzufliegen macht keinen Sinn. Außerdem geht es oft ja um fruchtbares Land. Es fehlt nur die Infrastruktur, die politische Struktur, dass Menschen ganz normal leben und arbeiten können. Den Hobbybereich gibt es auch weiterhin, klar. Aber davon kann sich die Menschheit nicht ernähren. Deswegen wird es noch mehr und noch effektivere Betriebe geben.
In Star-Trek kann man sich vom “Replikator” ganz spontan unterschiedlichste Speisen bestellen, die sie dann praktisch aus dem Nichts erschafft. Ist so ein Szenario für die Zukunft tatsächlich denkbar?
Ja. Wir werden zukünftig Essen aus Fertigkomponenten drucken, wie mit Rezepten. Der Replikator wird Wirklichkeit werden. Genauso wie „Hello Fresh“ Wirklichkeit geworden ist und uns seit 2011 Essen nach Rezept liefert. Wir können dann genau das bekommen, was wir brauchen. Wir bekommen unsere Komponenten in unterschiedlichen Geschmäckern und Farben und dann wird die Maschine sie einfach zu einer Banane zusammensetzen – aber natürlich ohne Schale. Ich finde das gut. Warum soll sich denn jemand zur Futtersuche draußen in der freien Natur bewegen? Wenn er doch den ganzen Tag arbeitet und alles andere auch online erledigen kann, druckt er sich eben etwas. Wer es sich leisten kann, wird sich aber trotzdem eine echt gewachsene Banane holen.
Wie sieht Ihre wildeste/futuristischste Fantasie bezüglich der Nahrungsmittelproduktion aus?
In Zukunft werden wir mit Trackern ganz genau feststellen können, wie viel und welche Nahrung wir benötigen. Vielleicht berechnen uns das die Krankenkassen und sagen es uns dann. Vielleicht geben sie uns die Nahrung gleich so. Aber wir werden nur zu uns nehmen, was wir wirklich brauchen. Das werden wir in Zukunft so machen. Auch unter dem Aspekt, dass Lebensmittel immer knapper werden und nicht mehr für jeden verfügbar sein werden. Damit werden wir kein System zerschlagen, aber es hätte sicherlich den Vorteil, dass die Kosten durch das Übergewicht von Menschen, die zu viel zu sich nehmen, die alle tragen müssen, nicht mehr so hoch ausfallen würden. Gleichzeitig würden die, die zu wenig haben, genügend bekommen.