Deutschlands Energiewende gilt als internationales Vorbild dafür, wie der Wechsel von fossiler und atomarer Energie hin zu grünen Energiequellen gelingen kann. Warum eigentlich? Eine Spurensuche.
Wenn man über Deutschland als Vorreiter im Bereich Erneuerbare Energien liest, dann ist das erste Argument oft: Die Bundesrepublik produziert die größte Menge Energie aus erneuerbaren Quellen in ganz Europa: 1508 Petajoule oder 36.018 Tausend Tonnen Öl-Äquivalent.
Dabei ist es viel aussagekräftiger, sich nicht die Produktion, sondern den Verbrauch anzuschauen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob man gesundes Essen propagiert, dabei aber selbst Burger isst oder sich tatsächlich auch gesund ernährt.
Schaut man von der Produktion – hier machen Erneuerbare 30 Prozent aus – auf den Verbrauch, schrumpft der Anteil der Erneuerbaren Energie auf zehn Prozent:
So wird der Spitzenreiter Deutschland im europäischen Vergleich zur Mittelklasse degradiert. Im internationalen Vergleich decken Länder wie Sambia, Äthiopien, Nepal und Costa Rica ihren Strombedarf nahezu zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen.
Politikwissenschaftler Rainer Quitzow forscht zur Transformation von Energiesystemen und zur Energiepolitik. Mit seinen Kollegen vom „Institute for Advanced Sustainability Studies” (IASS) in Potsdam hat er in einer Studie die deutsche Energiewende im internationalen Kontext untersucht: „Das Vorhandensein grüner Energie in Kombination mit der starken Wirtschaftskraft Deutschlands machen das Land zu einem wichtigen Vorbild in Sachen Energiewende. Andere Länder mit hohen Anteilen erneuerbaren Energien, wie Dänemark, haben auch eine Vorbildfunktion. Diese ist aber, insbesondere für aufstrebende Länder wie China oder Indien, deutlich schwächer ausgeprägt. Trotzdem trägt Dänemark durch seine bilaterale Zusammenarbeit beispielsweise mit China zum Wissensaustausch auf dem Gebiet bei.”
Dabei ist ein hoher Anteil an Erneuerbarer Energie allein nicht ausreichend für eine Vorbildfunktion erklärt Quitzow: „Schweden hat, anders als Deutschland, eine hohen Anteil an Wasserkraft (ca. 45%) sowie große Waldressourcen, die zur Entwicklung der Bioenergie von großer Bedeutung sein können. Dies sind im Unterschied zu Wind- und Solarenergie keine fluktuierenden Energieträger, die von der tagesaktuellen Ressourcenverfügbarkeit abhängen. Das heißt, dass das Erreichen der schwedischen Ziele keinen grundlegenden Umbau des Energiesystems impliziert, um die Integration fluktuierender Energieträger zu gewährleisten. Die Wasserkraft zählt ja zu den bestehenden Energiequellen des Landes und stellt auch sonst keine besondere technologische Herausforderung dar. Erst bei Anteilen von 80%+ hätte es Schweden wohl mit ähnlichen Herausforderungen wie aktuell in Deutschland zu tun. Das ist aber scheinbar gar nicht geplant, da die schwedische Regierung wohl an der Atomenergie festhalten will. Dies stellt dann einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der Energiepolitik der zwei Länder dar.”
Es ist also keinesfalls so, dass Deutschland die Idee der Energiewende für sich allein beanspruchen könnte: Weltweit haben sich 164 Länder Erneuerbare Energieziele gesetzt. Warum gilt dennoch gerade Deutschland als Vorbild?
Der importierte Strommix ist sicher kein Grund dafür. Insgesamt produziert Deutschland zu wenig Energie, um den eigenen Bedarf zu decken: Eine Lücke von mehr als 200.000 Tonnen Öl-Äquivalent wird mit Importen aus dem Ausland gedeckt. Doch auch bei den Importen könnte Deutschland grüner sein – denn der Großteil der importierten Energie stammt aus fossilen Quellen.
„Ölimporte sind in Deutschland vor allem für den Transportsektor bestimmt. Ölimporte könnten also nur dann durch den Import grüner Energie ersetzt werden, wenn der Transportsektor sich auf Elektromobilität umstellen würde,” sagt Rainer Quitzow.
Dennoch ist Deutschland entschlossen, bis 2022 der Atomenergie und bis 2050 80 Prozent der fossilen Energie den Rücken zu kehren. Dafür gibt es großen Rückhalt in der Bevölkerung: Mehr als drei Viertel der Deutschen befürworten die Energiewende. Viele Solaranlagen entstanden auf Initiative und den Dächern der Bürger selbst. 47 Prozent der installierten Kapazität 2013 war auf Privathaushalte zurückzuführen.
Gleichzeitig ist es eine logistische Herausforderung für ein Land von der Größe der Bundesrepublik von zentraler Energieerzeugung auf eine dezentrale Versorgung umzustellen. Ein intelligentes Stromnetz und effiziente Energiespeicher sind unabdingbare Voraussetzung.
Denn derzeit ist die Versorgung mit Wind und Sonnenenergie noch zu unberechenbar, um sich bei der Energieversorgung ganz auf sie zu verlassen.
In der Geschichte der Energiewende ist es den Erneuerbaren erst einmal gelungen, den deutschen Strombedarf nahezu komplett zu decken: Am 8. Mai 2016 wurde so viel erneuerbarer Strom ins Netz eingespeist, dass die Preise kurzzeitig ins Negative fielen und Bürger fürs Stromverbrauchen bezahlt wurden.
Herausforderung: Netzausbau und Speichertechnik um Nachfrage und Angebot abzustimmen
Das verdeutlicht eine der Herausforderungen bei der Energiewende: Erneuerbare Energien auf Angebot und Nachfrage abgestimmt in das deutsche Stromnetz einzubauen.
Die Bundesrepublik produziert die meiste Zeit mehr grüne Energie als sie tatsächlich verbraucht. Der Überschuss wird in die Netze der Nachbarländer abgeleitet – zunehmend zu deren Verdruss, da so ihre Preispolitik durcheinander gerät.
Das unterstreicht einen Aspekt, den auch Experten immer wieder betonen: Eine wirkliche Energiewende erfordert einen europäischen Ansatz.
Auch auf einer weiteren Ebene ist Kooperation gefragt: Mehr grüne Energie bedeutet zunächst weniger Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe. Doch Deutschland verfügt weder über nennenswerte Wasserkraft, noch über konstant hohe Sonneneinstrahlung oder besonders viel Wind. Unterm Strich ist die Bundesrepublik also weiterhin auf Kooperationen mit ihren Nachbarländern angewiesen.
Gerade das macht Deutschland als mögliche Blaupause interessant für andere Länder weltweit: Schließlich hat nicht jedes Land so günstige Voraussetzungen wie Portugal mit viel Wind und Sonne oder Island mit Geothermie. Doch wenn es Deutschland trotz seiner suboptimalen Voraussetzungen schafft – dann kann die Energiewende auch in anderen Ländern gelingen.
Dabei unterscheidet sich Deutschland von anderen europäischen Ländern mit mehr grüner Energie vor allem durch seine starke Wirtschaftskraft: Der hohe Industrieanteil macht eine Umstrukturierung des Energiesektors schwieriger; aber erzeugt auch eine umso größere Strahlkraft, wenn sie gelingt.
Wenn Deutschland vorangeht, werden andere Länder folgen?
Eine Ausweitung des Konzepts Energiewende ist mit Blick auf den Klimawandel sogar notwendig. Schließlich hat es wenig Bedeutung für den Planeten, wenn das kleine Deutschland seinen CO2-Ausstoß verringert. Doch wenn ein CO2-intensives Land wie China oder die USA diesem Beispiel folgen, hat es sehr wohl einen Effekt.
„China und die USA haben schon den Anspruch, ein Vorreiter in Sachen Erneuerbarer Energien zu sein. Sie sind - natürlich vor allem wegen der Größe ihrer Märkte – auch international führend, sowohl im Zubau als auch in der insgesamt installierten Kapazität erneuerbarer Energien. China hat auch eine starke nationale Förderstrategie. In den USA ist die nationale Förderstrategie weniger ambitioniert als die Strategien einiger Vorreiter Bundesstaaten, wie Kalifornien oder Colorado", sagt der Politikwissenschaftler Quitzow. „Gleichzeitig ist es richtig, dass sowohl China als auch die USA weiterhin auch auf fossile Energieträger sowie Nuklearenergie setzen. Das heißt, dass es bisher in diesen Ländern noch nicht die Zielsetzung gibt, ein System zu entwickeln, das vorwiegend auf Erneuerbare setzt. Trotzdem sind die Energiesysteme auch dort im Fluss. In den USA hat die Entwicklung von Schiefergas/-öl ja auch eine Energiewende in Gang gebracht. In China setzt man weiter stark auf Kohle, allerdings hat sich der Zubau mittlerweile auch verlangsamt und die Kohleverbrennung ging in den vergangenen Jahren sogar zurück.”
Dafür muss Deutschland zeigen, dass eine Umstellung ohne Wohlstandsverluste gelingen kann – und demonstrieren, wie Marktinstrumente am besten eingesetzt werden sollten. Zwar haben bereits 103 Länder eine Einspeisevergütung – aber wie man sie am besten regulieren sollte, darüber sind sich Experten uneins. Ähnliches gilt für den weiteren Ausbau von Erneuerbaren: Während die Bundesregierung den Zubau deckeln will, argumentieren die Gegner, dass man das Wachstum besser nicht ausbremsen sollte. Auch wenn es Deutschland zunächst mehr kostet, voranzugehen – auf lange Sicht sollte sich diese Investition auszahlen: durch zusätzliche Arbeitsplätze und Technologie-Exporte.
Essentiell für Elektromobilität: Kann aus Anti-Atom auch Anti-Fossil werden?
Etwas, das sich jedoch nur schwerlich exportieren lässt, ist Deutschlands Anti-Atom-Bewegung. Dabei war das Atomunglück von Fukushima 2011 „nur” der Schlussstein in einer Reihe von Ereignissen, die die deutsche Aversion gegen Atomkraft so stark gemacht hat, dass die Bundesregierung den Ausstieg beschloss.
Außenstehende Beobachter sagen, dass das Gelingen der Energiewende von einer Frage abhängt: „Kann Deutschland aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe ebenso konsequent aussteigen wie aus der Atomkraft?” Schließlich sei die Angst vor einer Kernschmelze ein viel stärkeres Motiv als die Angst vor den Folgen langsam steigender Temperaturen.
Vor allem beim Thema Elektromobilität fällt die fehlende Anti-Fossil-Bewegung ins Gewicht. Im Alltag der Verbraucher macht es keinen Unterschied, ob der Strom aus der Steckdose grün ist oder nicht. Doch wenn man von einem Benziner auf ein Elektroauto umsteigt, erfordert das eine Veränderung der Tank- und Fahrgewohnheiten. Und Veränderung fällt dem Mensch in der Regel schwer.
Dabei ist eine Veränderung hier besonders essentiell: 25 Prozent des Energiebedarfs und rund 20 Prozent des CO2-Ausstoßes sind auf den Transportsektor zurückzuführen. Die Hälfte der Energie entfällt auf PKW. Wenn Deutschland seine CO2-Emissionen signifikant senken will, müssen Autos zukünftig anders angetrieben werden.
Sich dabei von fossilen Brennstoffen abzuwenden ist keine Unmöglichkeit: In Brasilien etwa wurde schon in den 1970er Jahren eine Ethanol-Infrastruktur aufgebaut: An jeder Tankstelle des Landes kann reines Ethanol oder ein Gemisch aus Benzin und Ethanol getankt werden. 95 Prozent der neu verkauften Fahrzeuge fahren mit solch einem Gemisch.
Der Anteil der neu verkauften Fahrzeuge in Deutschland, die nicht mit Benzin sondern mit Strom fahren, lag 2015 bei 0,4 Prozent. Ein möglicher Grund sind die Kosten: Ein Elektrofahrzeug kostet rund doppelt so viel wie ein neuer Benziner und die angeboteten Steuervorteile belaufen sich auf nur 180 Euro jährlich.
Es gäbe also durchaus Ansatzpunkte, eine neue Automobilindustrie zu fördern. Doch Deutschlands Pläne sind noch zu unkonkret, sagen Experten. Der Ausbau sei deswegen langsam, weil es keine Strategie gebe, ob Politik und Wirtschaft nun Elektroautos, Hybridwagen, Wasserstroff-Fahrzeuge, Biokraftstoff-Wagen oder alle Varianten fördern wollen.
Während einige Analysten fordern, dass es Zeit ist, sich in Sachen Energiewende vom Energiesektor ab- und dem Transportsektor zuzuwenden, gibt es auch das Gegenargument: Erst wenn eine Vollversorgung mit grüner Energie gewährleistet ist, macht es Sinn, den Transportsektor umzustellen. Schließlich bringe es wenig, wenn alle Elektrowagen auf Kohle-Strom fahren.
Vorsorgen für eine Zukunft hinter unserem Lebenshorizont
Nicht nur die sich langsam entwickelnde Elektromobiltät macht die Energiewende zu einem Generationenprojekt – eine Idee, die es lange nicht gab.
Im Gegensatz zur Atomkraft, deren Folgen ebenfalls von späteren Generationen getragen werden müssen, ist die Botschaft bei den Erneuerbaren Energien eine andere: Hier geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und im positiven Sinne für eine Zukunft vorzusorgen, die erst lange nach uns eintreffen wird.