Birgit Mahnkopf hält eine Professur für Europäische Gesellschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf ökonomischen, sozialen und politischen Aspekten der Globalisierung. Im Interview geht sie auf die prekäre Situation von Geflüchteten in Deutschland ein.

Auf dem Rücken der Geflüchteten

Interview: Deutschland lastet Geflüchteten bewusst große Lasten auf

  • Sind Geflüchtete, rein ökonomisch betrachtet, ein Gewinn oder ein Verlust für Deutschland? Hängt das mit der Dauer des Aufenthalts zusammen?
  • Ich könnte Ihre erste Frage mit dem zynischen Hinweis auf die gewachsene Bedeutung der Ökonomie des Grenzschutzes beantworten. Tatsächlich verdienen viele Unternehmen und deren Anteilseigner, darunter auch viele Deutsche, ganz prächtig daran, dass an den europäischen Außengrenzen Drohnen, Boote, Grenzzäune errichtet werden und jede Menge Software für die Überwachung der Grenzen und die Kontrolle von Flüchtlingen und Migranten  ausgegeben wird. Auch die gewaltigen Bürokratieapparate, die für die Abwehr, die Kontrolle und die Abschiebung von Flüchtlingen ausgebaut werden, bringen viele Menschen in Lohn und Brot und leisten mithin einen positiven Beitrag für die hiesige Ökonomie. Mit ist freilich bewusst, dass Sie diesen Aspekt der europäischen und deutschen Flüchtlingspolitik wohl nicht gemeint haben.
    Allerdings kann ich auch nicht verhehlen, dass Ihre Frage, deren Stoßrichtung ich wohl verstanden habe,  mich sehr befremdet: Die Genfer Flüchtlingskonvention, auf die Deutschland  sich verpflichtet hat, kennt ein ökonomisches Kalkül, wie Sie es von mir verlangen, nicht. Flüchtlinge als „rein ökonomische“ Faktoren zu betrachten – noch dazu in einem der reichsten Länder dieser Welt – ist letztlich als Verlängerung jenes Diskurs zu sehen, der 2016 mit dem unsinnigen Schlagwort von  einer „Flüchtlingskrise“, die „uns“ heimgesucht hätte, begonnen hatte. Eine „Flüchtlingskrise“ haben wir nicht erfahren, wohl aber stecken wir inmitten einer tiefen Krise der Humanität – und ihre Wortwahl ist Ausdruck dieser Krise.
    Freilich können Sie sich mit Ihrer zutiefst inhumanen Wortwahl auf den Zeitgeist berufen: Eine seit mehreren Jahrzehnten anhaltende und offensichtlich sehr erfolgreiche neoliberale Gehirnwäsche hat dafür gesorgt, dass Alle und Alles dem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen werden. Demnach dürfen und müssen schutzbedürftige Menschen – egal ob mit deutschem Pass oder mit Wurzeln im Ausland – zuvorderst nach ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit und ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt  beurteilt werden. Dies ist eine zutiefst instrumentelle Sicht auf Menschen, insbesondere auf jene, die vor gewaltsamen Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen in ihren Herkunftsländern, vor Verfolgung und Repression, aber auch  vor den ökonomischen und sozialen Folgen schwerer ökologischen Krisen geflohen sind, die immer häufiger den (Bürger)Kriegen, dem Einsatz militärischer Gewalt und Vertreibung von Zigtausenden von Menschen vorausgehen.
    Im Übrigen liegt ihrer Frage eine in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern weit verbreitete Fiktion zu Grunde. Dies ist die Annahme, man könne – wenn es denn „ökonomisch nicht passt“ oder aus ideologischen Gründen gewünscht wird – die demographische Situation eines Landes auf einen bestimmten historischen Augenblick fixieren.  Das hat in keinem Lande zu irgendeiner Zeit funktioniert. Selbst rigide Grenzregime können MigrantInnen nicht aufhalten,und Flüchtlinge an den nationalen Grenzen abzuweisen, kommt einem Rückfall in die Barbarei gleich.
    Ob die Zugewanderten in ökonomischer, aber wichtiger noch auch in sozialer und kultureller Hinsicht von der ansässigen Bevölkerung als ein „Gewinn“ betrachtet werden, hängt selbstverständlich von ihrer Aufenthaltsdauer, aber eben nicht nur davon ab. Für die Aufnahmeländer stellen Zugewanderte nur in den Anfangsphasen eine „Belastung“ (aber sicherlich keinen „Verlust“ – wovon auch?) dar. Alle verfügbaren Studien sind sich darin einig, dass ihr Arbeitskräfteangebot in längerer Frist viele Dienstleistungen verbilligt und dass ihre Konsumausgaben, ebenso wie die Steuern und Beiträge für soziale Sicherungssysteme, die sie bezahlen werden, mit der Dauer ihres Aufenthalts im Aufnahmeland  als ein „Gewinn“ zu verbuchen sind.
  • Gelingt die Integration von Menschen mit positivem Asylbescheid in den deutschen Arbeitsmarkt?
  • Außer Frage steht, dass Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, nicht anders als Menschen aus fremden Ländern, die auf legalem Wege eine Arbeitserlaubnis erhalten haben, sich in aller Regel in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren wollen und dies gilt ebenso für die meisten derjenigen, die „un-dokumentiert“ in Deutschland leben, - in unserem inhumanen Sprachgebrauch werden diese Menschen als „illegale Migranten“ bezeichnet.
    Für die hiesige Flüchtlingspopulation hat das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“  kürzlich eine repräsentative Studie vorgelegt. Diese macht allerdings deutlich, dass die „Integration in den Arbeitsmarkt“ nicht, wie in der öffentlichen Debatte häufig suggeriert wird, eine Art „Bringe-Leistung“ der Geflüchteten ist, sondern geeignete „Vor-Leistungen“ der Aufnahmegesellschaft voraussetzt. Bei den Bildungs- und Berufsabschlüssen weisen die mehrheitlich eher jüngeren Menschen, die in den letzten Jahren als Flüchtlinge ins Land gekommen sind, freilich einige Unterschiede zur deutschen Wohnbevölkerung auf. Dies liegt u.a. daran, dass es in Herkunftsländern dieser Menschen keine dem deutschen Ausbildungssystem vergleichbaren Einrichtungen der beruflichen Bildung gibt. Daher sind viele Flüchtlinge mit handwerklichen, technischen und kaufmännischen Qualifikationen zu uns gekommen, können diese aber nicht durch eine formelle Bescheinigung dokumentieren – und haben es dementsprechend schwer, eine ihrer Qualifikation gemäße Anstellung zu finden. Hinzu kommt, dass unter den Flüchtlingen der Anteil derjenigen, die nur über Qualifikationen am unteren Ende des Spektrums verfügen, relativ groß ist. Allerdings weisen alle Flüchtlinge eine sehr hohe Bildungsmotivation auf,  dies gilt dezidiert auch für die Frauen unter ihnen Zudem sie teilen mit der deutschen Wohnbevölkerung deutlich mehr Wertvorstellungen als mit der Bevölkerung in ihren Herkunftsländen, so der Befund des DIW. Die DIW-Forscher betonen aber auch, dass eine erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt nicht nur von gezielten Beratungs- und Bildungsangeboten abhängt, sondern auch von adäquatem und bezahlbarem Wohnraum, von Möglichkeiten der lebensweltlichen Integration in die Aufnahmegesellschaft und, ganz wichtig: von Arbeits- und Lohnbedingungen, die geltende Mindeststandards nicht unterschreiten.
    Dass wir diese Menschen, wie so viele andere die irgendwann in der längeren oder kürzeren historischen Vergangenheit einmal „Flüchtlinge“, „Zugezogene“ oder „Neubürger“ waren, heute aber zur deutschen Wohnbevölkerung zählen, auch (aber eben nicht nur!) als Arbeitskräfte benötigen, daran kann es wohl keinen Zweifel geben. Denn insbesondere in vielen Regionen der östlichen Bundesländer, ebenso wie in den sich entvölkernden Teilen im Westen Deutschlands werden viele Dorfgemeinschaften und Kleinstädte in Zukunft wohl nur dann Kindergärten, Schulen, medizinische Versorgung, einen öffentlichen Nahverkehr, wohnortnahe Einkaufsmöglichkeiten und soziale Einrichtungen und Begegnungsstätten haben, wenn die alternden Kommunen durch „Neubürger“ bereichert werden.
  • Ist die Globalisierung von der Mobilität von Arbeitskräften abhängig oder sind es die Fertigungsstätten und Finanz- sowie Wissensströme, die mobil sind?
  • Die Globalisierung, wie wir sie seit ein paar Jahrzehnten erleben, hat vor allem die Ausweitung und die Liberalisierung des internationalen Handels (zum großen Teil innerhalb von transnational agierenden Unternehmen), also von Gütern und Dienstleistungen und die grenzenlose Mobilität von Kapital befördert – gestützt auf moderne Informations- und Kommunikationstechnologie, ein weltumspannendes Transportnetz und die für all dies benötigte billige Energie. Das war zum Vorteil der großen Unternehmen und der großen Volkswirtschaften (darunter an vorderster Stelle diejenige Deutschlands), aber nicht zum Vorteil kleinerer Unternehmen und kleinerer Volkswirtschaften (insbesondere nicht in den Ländern des Südens) und vor allem nicht zugunsten der kleinteiligen Landwirtschaft (insbesondere in unserem Nachbarkontinent Afrika).
    Demgegenüber war und ist die Mobilität der Arbeitskräfte beschränkt und nach wie vor durch unzählige physische und rechtliche Hürden behindert. Das ist in Deutschland so, innerhalb der Europäischen Union, aber auch vielen anderen Ländern dieser Welt. Gewiss, innerhalb der EU gilt das Prinzip der Freizügigkeit nicht nur für Kapital, Waren und Dienstleistungen sondern auch für den Faktor Arbeit. Doch wissen wir, dass dessen Mobilität, weil sie nicht durch eine europäisch vereinheitlichte Sozial- und Lohnpolitik abgestützt wird, sich vor allem zu einem Vorteil für die  Arbeitgeber entwickelt hat.
    Keine Frage, in Zeiten der Globalisierung hat auch die grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften deutlich zugenommen; sie ist sowohl eine Konsequenz wie ein Instrument der ökonomischen Globalisierung. Für Deutschland heißt dies vor allem eines: Wir exportieren Arbeitslosigkeit aus unserer wettbewerbsfähigen Ökonomie  -  deren Produkte die Märkte der weniger wettbewerbsfähigen Anbieter im Ausland fluten – und wir importieren aus Ländern, in denen die Unterbeschäftigung und die Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt in Folge der erfolgreichen Markteroberung durch deutsche Unternehmen, gewachsen sind, Arbeitskräfte insbesondere für hiesige Unternehmen, die weniger mobil sind: in der landwirtschaftlichen Produktion und  im Baugewerbe und für viele personennahe Dienstleistungen.
    Für den Bereich der Landwirtschaft liefert Großbritannien derzeit ein schönes Lehrbeispiel, dass es ohne Migranten schlichtweg nicht mehr geht: Im Anschluss an das BREXIT-Votum, das sich ja u.a. gezielt gegen Migranten aus Osteuropa richtete, haben diese im Jahr 2017 zu Tausenden die Insel verlassen und Saisonarbeiter insbesondere aus Bulgarien und Rumänien, die zuvor 99% der Arbeitskräfte auf britischen Feldern stellten (gegenüber gerade einmal 0,6% mit einem britischen Pass!) sind erst gar nicht gekommen. Die Folge: In der Erntezeit des Herbst 2017 waren fast ein Drittel der Stellen unbesetzt – und daher blieben die Früchte zu lange auf den Bäumen, verrottete das Gemüse auf den Feldern und fuhren die landwirtschaftlichen Betriebe schwere Verluste ein. Nun wird darüber diskutiert, den Blaubeeranbau nach Yunnan in China zu verlagern – und Obst für den britischen Markt wird zukünftig aus Südafrika, Australien und Neuseeland kommen.
  • Wie stehen Ausländer mit Einheimischen auf dem deutschen Arbeitsmarkt in Konkurrenz?
  • Wieder bin ich über Ihre Frage irritiert: Meinen Sie mit dem Begriff „Ausländer“ tatsächlich alle Menschen, die keinen deutschen Pass haben, aber auf dem hiesigen Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft anbieten – darunter so unterschiedliche „Ausländer“ wie die Medienschaffenden aus den USA oder Israel, die Krankenschwestern aus Osteuropa oder aus einem afrikanischen Land, die griechische oder italienische Akademikerinnen, die in Berlin als Serviererin jobben, die Erntehelfer und die Fleischhauer aus Rumänien oder die Nigerianer mit Masterabschluss, die in den hiesigen Callcentern arbeiten? Grundsätzlich treten Arbeitnehmer in allen Teilsegmenten des Arbeitsmarktes in Konkurrenz zueinander, ganz unabhängig davon, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. Und in vielen Fällen wird dies von Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft gleichermaßen begrüßt.
    Allerdings gibt es viele Maßnahmen und Regelungen, die dafür sorgen, dass es hierzulande wie in anderen europäischen Ländern auch, zweigleisige Arbeitsmärkte für „Einheimische“ und für „Fremde“ gibt. Wenn Flüchtlingen erst nach sehr langer Zeit eine Arbeitserlaubnis erhalten; wenn offene Stellen bewusst an Menschen mit deutschem Pass vergeben werden; wenn ehemaligen Studierenden nach dem Abschluss ihres Examens an einer deutschen Hochschule ein legales Aufenthaltsrecht verweigert wird; wenn erwartet wird, dass Menschen mit fremdartig klingenden Namen zu einem niedrigeren Lohn als Deutschstämmige arbeiten; wenn es ArbeitnehmerInnen erschwert wird, sich in Gewerkschaften zu organisieren; wenn politische Rechte an den Geburtsschein gekoppelt bleiben und nicht an die Dauer ihres Aufenthalts im Lande – in all diesen Fällen werden Zugewanderte, seien sie Flüchtlinge oder MigrantInnen, faktisch in die „Schmutzkonkurrenz“ zu einheimischen Arbeitskräften gezwungen. Sie werden zu Lohndrückern gemacht und/oder in die informelle Ökonomie abgedrängt.
    Empirisch belegen lassen sich Zusammenhänge zwischen Migration und einer Zunahme von Arbeitslosigkeit unter Einheimischen nicht. Doch es steigt mit der Zunahme der Arbeitsbevölkerung in der Regel auch die Beschäftigung – weil die Jobs von Migranten entweder vor ihre Ankunft gar nicht existierten oder weil sie Arbeitsmöglichkeiten nachfragen, die zu den gegebenen Bedingungen von Einheimischen weniger nachgefragt werden. Nachweislich beeinflusst aber die Zahl der Einwanderer und Migranten einen Abwärtstrend bei den Löhnen und die Beschäftigungschancen eher gering qualifizierter Einheimischer. Je „unsichtbarer“ Migranten sind, je weniger sie über gültige Papiere verfügen, desto leichter könne sie als Lohndrücker und „Sklavenarbeiter“ eingesetzt werden.
    Aus der Perspektive des politischen Systems kann es durchaus sinnvoll sein, diese Menschen zu kriminalisieren – weil sie auf diese Weise vom Zugang zu Unterstützungssystemen isoliert werden – und weil sich so ein repressives Migrationsregime legitimieren lässt. Aus der Perspektive einheimischer Arbeitskräfte sollte hingegen ein Interesse an einer „Regularisierung“ der Migration ohne  Visum Bestehen – um eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu stoppen.
  • Welche Auswirkungen hat die neoliberale Globalisierung auf Migrationsbewegungen nach Europa?
  • Bitte erlauben Sie mir, dass ich auf diese Frage nur sehr knapp antworte. Grundsätzlich sollten wir davon ausgehen, dass die Migration - ob nach Europa oder in andere Länder außerhalb Europas, wo ja die bei weitem größeren Migrationsbewegungen stattfinden – eine notwendige Folge der Steigerung des ökonomischen Wachstums ist, welches innerhalb der letzten Jahrzehnte in Deutschland, in Europa und in anderen Teilen der Welt stattgefunden hat: Dieses Wachstum hat mit seinem historisch niemals zuvor dagewesenen Zuwachs an Produktion und Konsum, aber eben auch an Ressourcenverbrauch und Schadstoffemission zu einer ebenfalls historische unvergleichliche Zunahme des Reichtums für eine kleine Gruppe der Superreichen, für eine Verbesserung der Einkommenssituation der Mittelschichten insbesondere in China, Indien und  einigen anderen Schwellenländern geführt – und zugleich zu einer Verhärtung der Armut bei der armen Hälfte der Weltbevölkerung. Wer jung genug und todesmutig genug ist, versucht alles, dahin zu kommen, wo das Wasser einem nicht (manchmal im wahrsten Sinne des Wortes) „bis zum Halse steht“, wo mit ein wenig Glück und viel Kraft ein Neuanfang versucht kann – für sich selbst und für die zurückgebliebene Familie, die von den Migranten erwartet, dass diese mit ihren Geldüberweisungen wenigstens einige der Versprechen auf „Entwicklung“ im Heimatland realisieren helfen.
  • Welchen Anteil nehmen in Deutschland Migranten in der Schattenwirtschaft ein und warum?
  • Wie bereits in meiner Antwort auf Ihre vorletzte Frage angedeutet, ist das Ausweichen in die Informalität der Arbeit insbesondere eine Folge des prekäre legalen Status von Migranten: Wer keine Arbeitserlaubnis hat; wer die vorherrschende Sprache im Lande nicht hinreichend lernen kann, weil er/sie von entsprechenden Angeboten ausgeschlossen ist; wessen Qualifikationen nicht anerkannt werden; wer darüber hinaus aus einem Land kommt, in dem er oder sie daran gewöhnt ist, dass Normen des Arbeitnehmerschutzes nicht eingehalten werden – all diese Menschen laufen Gefahr, in dem auch hierzulande immer größer werdenden „Schattenreich“ der Arbeitswelt ihr Auskommen suchen zu müssen. Häufig helfen bei der Integration in diesen großen informellen (und zum Teil auch kriminellen) Bereich des Arbeitsmarktes nur ethnische Netzwerke und familiäre Bande. Soziale Beziehungen treten an die Stellen vor formaler Arbeitskräfterekrutierung – für die „unsichtbare Arbeit“, die vor allem Frauen in den Haushalten verrichten, für Klein- und Subunternehmen, die Tagelöhner für die Baubranche, für die Knochenjobs in der Landwirtschaft, im Tourismus und für die digital gesteuerten modernen Dienstbotenjobs suchen. Mangels attraktiver Alternativen müssen Migranten oft viel flexibler, mobiler und anpassungsfähiger sein als einheimische Arbeitskräfte – und daher sind sie bestens geeignet für das neue „Dienstleisungsproletariat“, von dem nicht nur die gutsituierten Menschen in dieser Gesellschaft profitieren.
    Zahlen besagen in diesem Zusammenhang wenig. Denn es ist ja ein Charakteristikum des „Informellen“, daß es nicht exakt gemessen, bestenfalls geschätzt werden kann. Daher sind die Zahlen zur informellen Arbeit in Deutschland wie anderswo in den Industrieländern nicht sehr verlässlich. Wir können aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Zone der ungeschützten Arbeit beständig wächst und dass diejenigen Menschen, die am verletzbarsten sind, die geringsten Chancen haben, aus dieser Zone zu entfliehen. Eine eher repressive Einwanderungspolitik, offener oder verdeckter Rassismus und Diskriminierungen vielfältiger Art – insbesondere beim Zugang zu „guter Arbeit“ – befördern die Verdrängung in die informellen Zonen der Ökonomie.
    Im Licht des ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalküls, das Sie zu Beginn dieses Interviews in Erinnerung gerufen haben, ließe sich indes behaupten, dass vor allem die irreguläre Migration (weil sie die Menschen rechtlos lässt) für viele Aufnahmeländer (auch für Deutschland) höchst funktional ist, weil sie hilft, jene Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu füllen, für die sich, ginge es mit rechten Dingen zu, keine Hand rühren würde – die besonders schmutzigen, die extrem belastenden, die am wenigsten anerkannten und besonders miserabel entgoltenen Tätigkeiten.  Eine wachsende informelle Ökonomie, im Schatten von politischer Kontrolle, kollektivvertraglichem Schutz und im Dunkel der Rechtlosigkeit operierend sorgt zugleich dafür, dass auch die im Licht, also die noch leidlich durch Mindestlöhne und Rechtsansprüche geschützten Arbeitnehmer (egal welche Staatsangehörigkeit sie haben) dem anhaltenden Druck der Deregulierung von Arbeitsstandards nachgeben. Nicht zuletzt deswegen sind die Grenzen zwischen informeller und formeller Ökonomie heute fließender als jemals zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
  • Welche Erwartungen haben Sie für zukünftige Migrationsbewegungen in den nächsten fünf Jahren nach und innerhalb Europas?
  • Es gibt keine Möglichkeit den Migrationsdruck zu reduzieren - solange wir dem zerstörerischen Wirken der Globalsierung nicht Einhalt gebieten. Denn die Globalisierung ist eine Dynamik, die soziale Ungleichheit in nie da gewesenem Ausmaß befördert. Die Mechanismen des Freihandelssystems haben ökonomisch Starke noch stärker und die Schwachen schwächer gemacht. Die Ketteneffekten von Finanzkrisen haben ganze Volkswirtschaften zerstört und soziale Fortschritte für das reichste Fünftel der Weltbevölkerung um den Preis der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen aller Menschen realisiert. Daher können die Versprechen der Globalisierung nicht eingehalten werden: die Beseitigung der Armut und die Verbreitung von Demokratie, Menschenrechten und Frieden.
    Wir sollten aber auch einsehen, dass Migration weder eine Invasion darstellt noch eine Katastrophe ist – sondern eine schlichtweg unvermeidliche Entwicklung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Migration die älteste Strategie der Armuts- und Risikoreduzierung und daher eine Kraft des Guten im Sinne der “menschlichen Entwicklung”.
    Zudem lehrt alle historische Erfahrung, dass es lange Zeit braucht, um Migrationsströme zu stoppen oder gar umzukehren. Wenn Entwicklungshilfe mit dem Schließen von Grenzen kombiniert wird, so wie das gegenwärtig von der EU versucht wird, ist dies zynisch, sehr teuer und vor allem nicht Erfolg versprechend. Weder Entwicklungshilfe noch Freihandelsabkommen sind geeignet, die wachsende Ungleichheit zu reduzieren. Daher werden zukünftig eher mehr als weniger Menschen für kurze oder längere Zeit fern ihrer Herkunftsländer leben – unter anderem auch in Europa. Die absehbaren Umweltkrisen, die eine wesentliche Fluchtursache sein werden, machen es unabdingbar die Genfer Konvention auszuweiten und auch Umweltflüchtlingen humanitären Schutz zu gewährleisten und ihnen Asyl zu gewähren. Unmittelbar notwendig ist es auch, dass die westlichen (wie die BRICS-) Staaten das Flüchtlingshilfswerk der UN in einer Höhe finanzieren, die ihrer  Wirtschaftskraft angemessen ist.

Titelbild: GGia, Creative Commons 4.0