Peter Ruhenstroth-Bauer ist Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, dem deutschen Partner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Die UNO-Flüchtlingshilfe hat als NGO zum Ziel, die deutsche Zivilgesellschaft zu informieren und zu mobilisieren: zur finanziellen Unterstützung der weltweit lebensrettenden Einsätze des UNHCR und gleichzeitig zur Unterstützung von Projekten für Geflüchtete in Deutschland. Im Interview sprachen wir über Flucht, Fluchtursachen und die Rolle der Politik bei der Schaffung von Lösungen.

Flucht hat viele Gesichter

Durch die Flüchtlingsfrage droht Europa auseinanderzudriften

  • Woher kommen aktuell die meisten Flüchtlinge?
  • Die meisten Flüchtlinge kommen aus den Krisengebieten des Nahen Ostens – aus Syrien und dem Irak. Aus dieser Region sind auch die meisten Menschen, die in Deutschland Asyl suchen. Vor allem seit 2015, als knapp eine Million Geflüchtete Deutschland erreichten. Die meisten Syrer und Iraker hatten in ihrem Heimatland früher ein Auskommen. Der Krieg zwang sie, ihr Hab und Gut zu verkaufen, um für ihren Weg nach Westen bezahlen zu können. Andere Hauptherkunftsstaaten von Flüchtlingen und Vertriebenen sind Langzeitkrisenländer wie Afghanistan, Somalia, Südsudan, Jemen oder die Demokratische Republik Kongo. Afghanen stellen derzeit die drittgrößte Gruppe von Flüchtlingen in Deutschland. Die allermeisten Flüchtlinge in den Subsahara-Staaten kommen nicht nach Europa, sondern bleiben in ihrer Herkunftsregion und leben oft unter katastrophalen Verhältnissen als Vertriebene im eigenen Land.
  • Welche Gründe gibt es für Flucht, welche werden in Deutschland anerkannt?
  • Menschen flüchten aus den unterschiedlichsten Gründen: vor Gewalt und Verfolgung, vor Armut, Perspektivlosigkeit, Hunger, Dürre oder weil ihr Lebensumfeld zerstört wurde. In Deutschland werden sogenannte Konventions-Flüchtlinge anerkannt, also Menschen, die unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Darunter sind Personen, die aus politischen, religiösen und ethnischen Gründen verfolgt werden und um ihr Leben fürchten müssen. Daneben gibt es ergänzende (subsidiäre) Fluchtgründe, die zu einer Anerkennung führen können. Z.B. geschlechtsspezifische, wenn Frauen in ihrem Heimatland von Gewalt und Unterdrückung bedroht sind.
  • Hat sich die Zahl der Flüchtlinge weltweit in den letzten Jahren verändert?
  • Die Zahl der Flüchtlinge hat sich in den letzten Jahren dramatisch nach oben entwickelt und Ende 2016 mit 65,6 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Ende 2013 hat die Gesamtzahl erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg die 50-Millionen-Grenze überschritten. Ende 2012 lag sie noch bei 45 Millionen.
  • Welche Auswirkungen hat die Flucht auf die persönliche Entwicklung der Flüchtlingskinder?
  • Kinder sind in physischer und psychischer Hinsicht die verletzlichsten Flüchtlinge. Häufig werden sie auf der Flucht von ihrer Familie getrennt. Flüchtlingskinder haben schreckliche Dinge gesehen und erlebt: den Mord an Verwandten, sexuellen Missbrauch, Zwangsrekrutierung. Aufgrund ihrer Traumatisierungen brauchen sie spezielle psychosoziale Therapien. In Flüchtlingslagern können diese Hilfen oft nicht bereitgestellt werden. Meist fehlt ausgebildetes Fachpersonal und das notwendige Geld dafür. Besondere persönliche Betreuung und Psychotherapien sind jedoch unbedingt erforderlich, um den Kindern die Rückkehr in ein normales Leben zu ermöglichen.
  • Vor welchen Herausforderungen stehen Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen? Wie kann man sich die einzelnen Phasen des Flüchtlingsseins vorstellen?
  • Sie verlassen ihr sicheres soziales Umfeld, ihre Freunde und Verwandten. Auf der Flucht sind sie ungeschützt und zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Viele werden ausgeraubt oder ausgebeutet. Finden sie unterwegs eine Arbeit, so ist diese meist sehr schlecht bezahlt. Alleinreisende Frauen und Kinder sind besonders gefährdet. Ihnen drohen sexueller Missbrauch, Entführung, Jungen auch Zwangsrekrutierung. Häufig schlägt ihnen auch Misstrauen und Ablehnung der einheimischen Bevölkerung entgegen.
  • Vor welchen Herausforderungen stehen Binnenflüchtlinge?
  • Binnenvertriebene leben häufig in umkämpften Regionen, in die aufgrund der prekären Lage keine oder nur unzureichende Hilfslieferungen kommen. Beispiele dafür gibt es in Syrien, in Enklaven, die von Rebellen gehalten werden. Auch in der Zentralafrikanischen Republik oder der Demokratischen Republik Kongo gibt es Regionen, die Helfer aus Sicherheitsgründen nicht erreichen können. Die Flüchtlingslager in den Nachbarländern sind sicherer und werden häufig von dort einheimischen Sicherheitskräften bewacht.
  • Wie finanziert sich Flüchtlingshilfe weltweit?
  • Der UNHCR finanziert sich in erster Linie durch freiwillige Beiträge: Mit rund 86 Prozent kommen die größten Summen von Regierungen und der Europäischen Union. Deutschland (476 Mio. Euro) ist nach den USA der zweitgrößte Einzelgeber weltweit. Sechs Prozent der Finanzierung entfallen auf zwischenstaatliche Akteure und Fonds (z.B. UN-Nothilfefonds CERF), weitere sechs Prozent kommen aus dem privaten Sektor. Nur zwei Prozent erhält der UNHCR aus dem regulären UN-Budget für Verwaltungszwecke.
  • Wo und wie unterstützt die UNO-Flüchtlingshilfe Flüchtlinge?
  • Wir fördern die weltweiten Hilfsprogramme unseres Partners UNHCR. Schwerpunktmäßig unterstützen wir die Nothilfe, um den Menschen nach der Flucht das Überleben zu sichern. UNHCR-Helfer sorgen für Unterkünfte (Zelte), verteilen Hilfsgüter wie Plastikplanen, Decken, Matratzen, Küchen- und Hygieneartikel. Außerdem kümmern sie sich um ärztliche Versorgung und spezielle Nahrung wie hochproteinhaltige Biskuits. Daneben stellen wir Geld für die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen zur Verfügung und fördern Bildungsprogramme, um ihnen eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu geben. In Deutschland unterstützen wir aktuell 70 Flüchtlingsprojekte. Schwerpunkt der Förderung liegt dabei auf Projekten, bei denen Flüchtlinge beraten und betreut werden sowie sozialen und psychologischen Beistand erhalten. Viele Menschen sind von den schrecklichen Fluchterlebnissen traumatisiert und bekommen therapeutische Hilfe. Asylsuchende brauchen zudem frühzeitig eine kompetente Beratung, um das komplizierte Asylverfahren zu verstehen. Zunehmend unterstützt die UNO-Flüchtlingshilfe auch Initiativen, die Perspektiven für Geflüchtete schaffen, indem sie bei der Jobsuche und der Arbeitsmarktintegration helfen.
  • Nach welchen Kriterien verteilt die UNO-Flüchtlingshilfe ihr Budget?
  • Wir unterstützen Projekte, die einen dringenden Finanzierungsbedarf haben, z.B., wenn ein Krieg ausbricht, eine Massenflucht einsetzt und schnelle lebensrettende Hilfe benötigt wird. Für Langzeitkrisenländer wie die Demokratische Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik oder Somalia steht in der Regel nur sehr wenig Geld zur Verfügung. Dort helfen wir ebenso. Auch viele Flüchtlingsprojekte in Deutschland, in denen meist Ehrenamtliche arbeiten, sind unterfinanziert und können den großen Hilfsbedarf nicht decken. Hier leistet die UNO-Flüchtlingshilfe eine Teil- oder Restfinanzierung, d.h., das betreffende Projekt muss bereits Geldgeber haben, damit es sicher auf eigenen Füßen stehen kann.
  • Wie beurteilen Sie die aktuelle Migrationspolitik Deutschlands und der EU?
  • In Fragen der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen droht Europa immer weiter auseinanderzudriften. Es kommt zu Allianzen von Ländern, die sich in erster Linie abschotten und die Flüchtlingsfrage nur unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten und Aspekten der Überfremdung betrachten. Deutschland hat die mit Abstand meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen, v.a. nach den Ereignissen von 2015. Ein Kraftakt, dem großer Respekt gebührt. Allerdings zeigt sich, dass Integration nicht immer einfach ist. Viele Geflüchtete haben Probleme eine Arbeit zu finden. Tausende anerkannte Flüchtlinge haben keine Wohnung und müssen stattdessen weiter in Wohnheimen und Aufnahmezentren leben.
  • Die EU verfolgt an den Außengrenzen eine Abschottungspolitik und setzt diesen auch entlang der Flüchtlingsrouten. Ist das mit den Werten der EU vereinbar?
  • In Libyen gibt es derzeit keine Regierung, die eine administrative Kontrolle über das ganze Land hat. Auch in Griechenland ist die Lage für die seit dem EU-Türkei-Abkommen gestrandeten Flüchtlinge weiterhin prekär und perspektivlos. Für sie geht es weder vor noch zurück. Ohne ein verbindliches EU-Abkommen bezüglich einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer wird es kaum eine humane Lösung geben - und nach wie vor auf Abschottung gesetzt.
  • Wie könnte ein humaner politischer Weg im Umgang mit Flüchtlingen aussehen? Wie könnte die inzwischen teils doch flüchtlingsskeptische Bevölkerung mitgenommen werden?
  • Zunächst, wie bereits erwähnt, ist innerhalb der EU ein verpflichtendes Abkommen zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge notwendig. Darüber hinaus müssen neue Wege geschaffen werden, um diesen Menschen den Zugang zu Schutz, Sicherheit und neuen Lebensperspektiven zu ermöglichen. Die Familienzusammenführung wäre eine Maßnahme, die Erteilung von Studentenvisa oder einer (temporären) Arbeitserlaubnis wären weitere. Es müssten dringend mehr Plätze für das sogenannte Resettlement, die Ansiedlung von Flüchtlingen in ein sicheres Drittland, zur Verfügung gestellt werden. Der skeptischen einheimischen Bevölkerung müsste deutlich gemacht werden, welches Potenzial – persönlich, sozial und wirtschaftlich – diese Menschen mitbringen. Dafür ist ein breites zivilgesellschaftliches Engagement notwendig.
  • Ist die Flüchtlingsfrage eine der entscheidenden Fragen für Europa?
  • Es ist nicht anzunehmen, dass Flucht- und Migrationsbewegungen in absehbarer Zeit aufhören. Wie künftig angemessen mit Menschen umgegangen wird, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie verfolgt werden, arm sind und woanders Perspektiven für sich und ihre Familien suchen, ist die große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Gerade für die Europäische Union, die auch in der Konsequenz von zwei Weltkriegen und eines nahezu machtlosen Völkerbundes gegründet wurde. Und die sich Demokratie, Menschenrechte und ein humanes Miteinander auf die Fahne geschrieben hat. Ob diese Werte in Europa wirklich gelebt werden, wird sich nicht zuletzt im Umgang mit geflüchteten Menschen zeigen.
  • Wie wird sich die Flüchtlingsituation in 5 bis 10 Jahren weltweit verändert haben?
  • Menschen werden sich auch künftig auf den Weg machen, um an einem anderen Ort Schutz, Sicherheit und ein besseres Leben zu finden. Die Fluchtgründe werden dabei komplexer: Manche fliehen vor Krieg und Gewalt, andere vor Hunger und Dürre, weil ihr Lebensumfeld zerstört wurde, oder vor dem Klimawandel. So zusammengesetzte Flüchtlingsgruppen findet man bereits heute in den Booten vor der libyschen Küste. Vom jetzigen Zeitpunkt aus beobachtet, ist es nicht anzunehmen, dass die reicheren Industrieländer verstärkt Flüchtlinge aufnehmen werden. Es bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Jahren die vielen Krisenherde dieser Welt befriedet und Konfliktursachen bekämpft werden können. Damit die Menschen in den ärmeren Ländern Lebensperspektiven bekommen, die sie davon abhalten, zu flüchten.